Sonntag vor der Passionszeit – Estomihi

 

Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn (Lukas 18,31)

Der letzte Sonntag der Fastnachts- oder Vorfastenzeit ist der ursprünglich fehlenden Leidensbereitschaft der Jünger Jesu gewidmet. Erst im Nachgang von Tod und Auferstehung Jesu erkennen sie, dass die Bereitschaft zum Leiden zur Erlösung und dem Weg mit Gott dazu gehört. Diese Einsicht steht freilich zur allgemeinen Vernunft in einem paradoxen Widerspruch: Warum sollte Leiden und Sterben Voraussetzung zur Erlösung und zum Heil sein? Und warum sollte Gott den Menschen Leiden und Sterben zumuten, wenn er doch das Leben für sie will? Damit thematisiert dieser Sonntag implizit das Theodizeeproblem, die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes in einer Welt voller Leid und Not.

Nicht nur der thematische Inhalt, sondern auch der Kontext, in dem dieser Sonntag gefeiert wird, ist dabei von einem nicht aufzulösenden Paradox geprägt. Der Sonntag Estomihi ist der „Rosensonntag“ der Fastnachts- bzw. Karnevalszeit. So wird deutlich: Wir Menschen sind im Grunde gar nicht bereit, die Frage nach dem Leid und seiner Bedeutung für unseren Lebensweg in seiner Tiefgründigkeit zu bedenken, sondern „drücken uns“ nur allzu gerne davor, indem wir weltliche Freuden, Ablenkung und Unterhaltung suchen. In der Predigt wird dies mancherorts dadurch pointiert, dass diese von der Reimform karnevalistischer Büttenreden geprägt ist, sofern der GD in einem durch karnevalistische Traditionen geprägten Umfeld stattfindet. Die Kunst bei der gottesdienstlichen Gestaltung dieses Sonntages besteht daher m.E. darin, dieses Paradox auf eine menschlich annehmbare Weise aufzuzeigen, ohne es wirklich auflösen zu können. Dazu kann der in der Fastnacht geübte Humor, sofern er den Anspruch hat, der Welt einen Spiegel ihrer eigenen Narrheit entgegen zu halten, sehr hilfreich sein, um die Gradwanderung zwischen der Leidensrealität Gottes und menschlicher Realitätsverweigerung zu bestehen. Übrigens wird diese Gradwanderung nicht dadurch kleiner, dass der Sonntag Estomihi im Kontrast oder gar in Frontstellung zur Fastnachtszeit in tiefer gottesdienstlicher Ernsthaftigkeit gefeiert wird. Auf diese Weise stellt sich die christliche Gemeinde außerhalb des sie umgebenden Lebenskontextes und erweckt damit nicht selten den Eindruck lebensfremder oder gar lebensfeindlicher Heiligkeit.

Die christliche Gemeinde muss nicht „besser“ sein als die Jünger bei der Leidensankündigung Jesu. Die Einsicht, dass aus dem Leiden etwas Gutes oder gar Erlösendes für das Leben erwachsen kann, ist eine spirituelle Einsicht, die ein ganzes christliches Leben braucht, um durchdrungen und angenommen zu werden. Dabei kommt es in der Regel erst im Lebensrückblick zur Einsicht und inneren Versöhnung, dass sich der von Gott geführte Lebensweg als gut erwiesen hat oder noch erweisen wird. In aller Regel geht es aber den Nachfolger*Innen Jesu wie den Jüngern seinerzeit darum, ihr Leben in einem prosperierenden Wohlstand und allerlei Freuden, in Gesundheit und möglichst wenig Leidenserfahrungen zu führen. Daran ist zunächst einmal auch nichts verwerfliches zu finden, obgleich Leben in dieser Weise immer im Tod enden wird. Aber sollte der Tod deswegen alle Lebensfreuden und alles Lebensglück im Heute und Jetzt bereits entwerten? Es ist daher wohl Ausdruck menschlicher Weisheit, dass wir unser Leben nur inkonsequent führen können, indem wir das Leben als Abfolge sporadischer Episoden betrachten, in denen „alles seine Zeit hat“ (Prediger 3,1). Menschliches Leben kann nur in Vorläufigkeit und innerhalb bestimmter Grenzen gelingen, an dessen Ende das Thema Leid gesetzt ist. Doch sollte das Leid nicht das gesamte Leben bestimmen, sondern vielmehr nur den Teil des Lebens, in dem sich die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen zeigt. Auch Jesus ist mit seinen Jünger*Innen einen Weg gegangen, auf dem sie zunächst viele Freuden und Wunder erlebt und Feste gefeiert haben, an dessen Ende aber auch die Auseinandersetzung mit dem stand, das zur Vollendung menschlichen Leben unverfügbar bleibt.

Die Akzeptanz der unverfügbaren Begrenztheit des Lebens und damit die Einsicht, dass Leiden am Ende unausweichlich ist, ist die spirituelle Herausforderung in allen Religionen. Nach christlichem Verständnis vollzieht sich die grundlegende Auseinandersetzung mit der Begrenztheit des eigenen Lebens im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Stellvertretend für alle Menschen geht er als erstgeborener Sohn Gottes den Weg durch Leid und Tod voran und öffnet so bei Gott den Weg in eine neue, verheißungsvolle Lebenszukunft. Wir Menschen dürfen uns in der Nachfolge Jesu auf diesem Weg führen lassen ohne ihn von uns aus wählen zu müssen. Darum ist es kein Widerspruch zum Leben mit Gott, wenn Christ*Innen ihr Leben inkonsequent gestalten und die begrenzten Freuden des Lebens in dieser Welt genießen. Auch diese werden uns von Gott auf dem Weg des Lebens geschenkt. Die Fastnacht bzw. die Vorfastenzeit gibt Gelegenheit, uns das Leben in aller Vorläufigkeit und Unvollkommenheit zuzugestehen und uns diesem zuzuwenden, dabei aber nicht aus dem Blick zu verlieren, dass dieses Leben noch nicht alles ist.

© Oliver Behre, Zörbig  2021