2. Sonntag vor der Passionszeit – Sexagesimae

 

Heute, wenn ihr seine Stimme hört, so verstockt eure Herzen nicht.  (Hebräer 3,15) 

Der vorletzte Sonntag bzw. 2. Sonntag vor der Passionszeit, auch Sonntag Sexagesimae (=ca. 60 Tage bis Ostern), genannt, thematisiert den menschlichen Umgang mit dem Wort Gottes. Evangelium dieses Sonntages ist das Gleichnis von der vierfachen Saat im Acker (Lukas 8,4-15). Das Wort Gottes fällt wie ein Saatkorn auf den menschlichen Ackerboden. Doch dieser Boden bietet der Saat des Wortes nicht die gleichen Entfaltungsbedingungen. Allein auf dem „guten Boden“ kann die Saat aufgehen und vielfältig Frucht bringen. Interessant an dem Gleichnis ist, dass nicht der Boden mit den HörerInnen gleichgesetzt wird, sondern vielmehr die äußere Bedingung dafür ist, ob die Saat bei den Menschen aufgeht. Demnach sind es äußere Faktoren, die dazu führen, ob Menschen das Wort Gottes in sich aufnehmen oder nicht und Frucht bringen. Als solche werden fehlende Hörbereitschaft, mangelnder Tiefgang, das Wort erstickende Sorgen oder eben eine freie Bereitschaft, das Wort zu hören und zu tun, qualifiziert. Es liegt also nicht unbedingt an den Menschen selbst, ob das Wort Gottes in ihnen und durch sie fruchtbar wird, es liegt eher an den Umständen ihres Lebens. Das eröffnet die Möglichkeit, die Umstände dazu im Rahmen des eigenen Handlungsvermögens verändern zu können, um auf diese Weise dem Wort Gottes mehr Raum im eigenen Leben zu geben. So gesehen haben wir Menschen also gewisse Freiheiten, uns für oder gegen eine Entfaltung des Wortes Gottes im eigenen Leben zu entscheiden. Nicht beeinflussen können wir, was Gott durch sein Wort dann in und mit unserem Leben macht. 

„Was bestimmt mein Leben?“ Diese Frage bildet gewissermaßen den Hintergrund für die Frage, welche Bedeutung und Wirkmächtigkeit das Wort Gottes für mich und durch mich entfaltet. Vier Möglichkeiten werden dazu von Jesus beschrieben. Zum einen Menschen, die von vornherein keinen Raum für das Wirken des Wortes in ihrem Leben bieten, weil sie offenbar mit ganz anderem beschäftigt sind. Zum zweiten gibt es Menschen, die offen sind für die Wahrheit Gottes, die aber dann schnell das Interesse dafür verlieren und sich anderen schönen Dingen zuwenden. Auch das Gegenteil gibt es. Menschen, die so besetzt sind mit Sorgen und anderen Anlässen, dass das Wort Gottes zunächst zwar Wurzeln schlagen kann, aber sich nicht nachhaltig entfaltet. Ein Mensch zu werden, in dem Gottes Wort vielfältige Frucht wirken kann, erfordert offensichtlich ein gewisses Maß an Lebenskunst, den richtigen Dingen im Leben Raum zu geben und darauf zu achten, für das, was jetzt wichtig und im Sinne Gottes ist, offen zu sein und zu bleiben und sich dazu von Gott durch sein Wort immer neu inspirieren zu lassen. 

Das Wort Gottes zu verstehen ist dabei nichts Statisches, das ein Mensch ein für alle Mal begreifen kann, sondern ein sich immer neu vollziehender Prozess, der mich fortwährend zu neuen Einsichten und Handlungsimpulsen führt. Im Hebräischen ist dabei der Begriff des Wortes gleichbedeutend mit dem eines Geschehens. Worte sind immer wirkmächtig und sollten darin nicht unterschätzt werden Hierin liegt auch das Wesen des Wortes Gottes begründet. Erscheint es auch unbedeutend, seine Frucht wird nachhaltig aufgehen. In ihm wohnt eine ungeheure schöpferische und nachhaltig wirkende Macht inne (Johannes 1,1), die qualitativ alle menschlichen Worte übersteigt. Sich der Wirkung der eigenen Worte bewusst zu sein und diese vom Wort Gottes her durchdringen zu lassen ist ein geistlicher Bildungsprozess, der sicher viel zu wenig geübt wird. Nicht umsonst wird von Paulus gesagt: „Lasst das Wort Gottes reichlich unter euch wohnen!“ (Kolosser 3,16)

Die Wochen vor Beginn der Passionszeit waren immer auch die klassische Zeit von Bibelwochen in Kirchengemeinden. Leider hat das Interesse dazu – sicher aus vielfältigen Gründen – stark abgenommen. Dennoch ist es auch im Rahmen einer Kirchengemeinde wichtig, im Laufe des Jahres der tieferen Beschäftigung mit dem, was Gott uns durch die Bibel zu sagen hat, einmal konzentriert und intensiv Raum zu geben. Eine jährliche Bibelwoche ist eine gute und wichtige Übung für eine lebendige Kirchengemeinde. 

© Oliver Behre, Zörbig  2021