Nachruf auf Cordula Schlemmer

 

In dankbarer Erinnerung

Als Cordula Schlemmer 1996 in den wohlverdienten Ruhestand ging, Zörbig verließ und zunächst in Kleinjena, gemeinsam mit ihrem Schwager und Schwester Hildegard, ihren Alters-Un-Ruhesitz nahm, ging für unsere Evangelische Kirchengemeinde eine Ära zu Ende. Ihr Weggang hinterließ eine Lücke, die bis heute nicht hinreichend geschlossen werden konnte. Damit spreche ich aus, was viele Zörbiger denken… Es war eine Zeit uneigennützigen, fruchtbaren Wirkens für die Menschen, denen sie begegnete. Sie hatte die tief in ihrem christlichen Glauben wurzelnde Gabe, aktiv auf Leute zuzugehen, sie mit Gottes Wort und seiner Heilszusage bekannt zu machen und viele durch ihr eigenes Vorleben vom Glauben zu begeistern. Neben ihrer Vorbildwirkung als Mensch war die Musik wahrscheinlich ihr wichtigster Hebel dazu. Flötengruppen, Posaunenchor, Klavierunterricht am mittlerweile an die riesige „Schlemmersippe“ vererbten Flügel, Kirchenchor, Flötenrüsten in Paplitz, Posaunenlehrgänge in Erfurt – jeder konnte bei ihr etwas werden oder sich zumindest ausprobieren. Manche musikalische Tradition Zörbigs (auch das Thomas-Selle-Gedenken) hat „Schlemmi“ erst begründet; mir persönlich wichtige Impulse für meine Berufswahl gegeben. Basis allen Handelns bildete und blieb für sie die „Indienststellung“ des eigenen Lebens fürs Evangelium. „Das Wort läuft“ hieß unsere Kinderbibel, die ich gern zu Hause las. Frau Schlemmer verwies mit Nachdruck auf dieses Buch, selbst hat sie uns in der Christenlehre nie daraus vorgelesen. Als Katechetin erzählte sie uns jede biblische Geschichte in- und auswendig und zwar so, als wären wir live dabei – absolut beeindruckend.

Im Ruhestand wurde es für sie kaum ruhiger: Orgeldienste am Naumburger Dom und vielen weiteren Kirchen des Burgenlandkreises, Posaunenchor in Bad Kösen, Gottesdienste, Unterstützung für die Evangelische Grundschule, Besuchsdienste und Hauskreis in Naumburg, Gefängnischor und Seelsorge in der JVA, Deutsch- und Geschichtsunterricht für Geflüchtete aus Syrien, Iran, … die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Die Arbeit war zeitlebens Berufung für Cordula Schlemmer. Sie war Geben und Nehmen, führte sie aber zunehmend auch an physische Grenzen.

Immer hielt sie den Kontakt zu den Menschen in Zörbig, war noch beim Mauritiusfest letzten Herbst persönlich anwesend. Doch auch moderne Medien waren ihr nicht fremd. So entdeckte sie schon vor einigen Jahren mit Unterstützung von Jugendlichen aus Naumburg das Smartphone für sich und nutzte Messengerdienste (siehe Selfie oben), um mit ihren Kontakten „up-to-date“ zu bleiben. Unter dem Titel „Schlemmi“ hatte sie seit November sogar ihre eigene WhatsApp-Gruppe! Auch hier wurde deutlich, wie wichtig es ihr war, Menschen zusammenzubringen und ihnen das ein oder andere segensreiche Wort zuzusprechen. Dankbarkeit für die selbst noch so kleinen Freuden im Leben, in denen sich die Größe Gottes zeigt, war bis zuletzt ihr Thema: Ein unscheinbares Alpenveilchen, das ich ihr zum Umzug innerhalb Naumburgs am 21.10.2020 mitbrachte, erfreute sie noch weit übers nächste Jahr hinaus und ihr Abschieds-Hibiskus aus 1996 diente ihr Ende 2021 sogar als „blühender Weihnachtsbaum“!

Sie lebte von vielen wertvollen Erinnerungen, verstand sich aber genauso gut noch immer als Impulsgeberin. Sorgen bereitete ihr die zunehmende Gefährdung unserer Demokratie. Nie wollte sie jemanden bevormunden, wohl aber immer wieder zum aktiven Nachdenken anregen! Kein Wunder, war sie doch bei Kriegsende 1945 gerade mal knapp 10 Jahre alt. Die Bombardierungen Leipzigs als Folge der Nazidiktatur steckten ihr da bereits leibhaftig in den Knochen und die Aussicht auf vielfaches Unrecht und Unfreiheit in der Diktatur des Proletariats war auch keine wirklich rosige. „Man müsste nochmal 20 sein und mit den heutigen Erfahrungen weiter arbeiten…“ beklagte sie unlängst etwas wehmütig.

Vor einiger Zeit trug ich ihr an, einen Artikel in unserer Rubrik „Mein schönste Kirchenlied“ zu verfassen. Dazu kommt es nun nicht mehr. Vermutlich wäre es ein Roman geworden – oder ihre Autobiografie… Ich war bis nach Ostern in Kontakt mit ihr. In der Rückschau schien sie wohl zu ahnen, dass ihr irdischer Lebensweg die Zielgerade erreicht hatte. Im April unterzog sie sich noch einer OP im Herzzentrum Leipzig, kurz danach verstarb sie zu Hause in Naumburg.

„Sie war ein guter Mensch“, schrieb ein Zörbiger als erste Reaktion. Am 10. Mai hatte ich die Ehre, an der Trauerfeier in ihrer einstigen Taufkirche St. Moritz in Naumburg teilzunehmen. Auf der Fahrt dorthin glaubte ich tatsächlich, ihr gleich begegnen zu werden. Blechbläser spielten – die Flötengruppe ließ ein letztes Stück erklingen – Psalm 118 wurde gebetet, der so viele Text-Puzzle-Teile mit ihrem Leben verbindet – Dankesworte gesprochen. Als der Sarg die Kirche verließ, intonierte der Posaunenchor Christian Lahusens Abendlied „Noch hinter Berges Rande“, da hatte auch ich begriffen…

Zur Beisetzung auf dem Friedhof St. Othmar spielte der Posaunenchor erneut. Einige Angehörige und Freunde sangen die Choräle spontan mit. Beim anschließenden Kaffeetrinken gab es viele gute Gespräche. Ich denke, alles ist ganz in ihrem Sinne gewesen. Nun hat sie eine majestätische Linde schräg vor sich und seitwärts den Domblick.

Der Kloß im Hals wird wohl noch einige Zeit bleiben. Ich bin unendlich traurig, aber genauso froh, Cordula Schlemmer gekannt zu haben und von ihr in wichtigen Abschnitten meines Lebens begleitet worden zu sein.

Bernd Birkhold